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Hannover

TikTok-Schock aus Niedersachsen: Pädagogin warnt vor Gewalt im Netz


Pädagogin fordert digitale Ethikrevolution
"Zwölfjährige sehen echte Tötungen – und das oft allein"

  • Patrick Schiller ist t-online Regio Redakteur in Hannover.
InterviewEin Interview von Patrick Schiller

Aktualisiert am 04.11.2025Lesedauer: 5 Min.
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Ein Junge an seinem Smartphone (Archivbild): Sollte Kindern der Zugang zu Social Media verboten werden? (Quelle: Jochen Tack via www.imago-images.de/imago)
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Gewaltvideos, Hass, Einsamkeit – Kinder wachsen im digitalen Abgrund auf. Die niedersächsische Pädagogin Silke Müller warnt im Interview: Wenn wir sie nicht begleiten, übernimmt das Netz ihre Erziehung.

Digitale Plattformen prägen das Leben junger Menschen wie nie zuvor – und öffnen zugleich Abgründe. Gewaltvideos, Hass und Falschinformationen bestimmen die Feeds, während Eltern kaum noch verstehen, was ihre Kinder online erleben. In dieser neuen Wirklichkeit fordert Silke Müller, ehemalige Schulleiterin und Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen, ein radikales Umdenken.

Doch Müller geht es nicht um Technik, sondern um Haltung. Sie spricht über Kinder, die sich von Chatbots trösten lassen, über Eltern, die aus Hilflosigkeit Verbote aussprechen – und über die Frage, warum wir den Begriff "Zensur" vielleicht neu denken müssen.

t-online: Frau Müller, mein zwölfjähriger Sohn zeigte mir auf TikTok eine Anleitung, wie man in Google Maps Massaker im Sudan sehen kann. Er war clever genug, technische Sicherheitsmechanismen zu umgehen – wie viele in seinem Alter um an die App zu kommen. Er hat die Anleitung auch selbst ausprobiert – ich war fassungslos. Ist das die Realität, in der Kinder heute leben?

Silke Müller: Leider ja. Was Sie beschreiben, erleben viele Kinder – nur dass sie es ihren Eltern meist verschweigen, aus Angst davor, dass ihnen das Handy abgenommen wird. Viele Eltern reagieren mit Verboten, weil sie sich hilflos fühlen. Damit verschärfen sie das Problem: Kinder verlieren Vertrauen und ziehen sich zurück. Währenddessen sind sie mit dem Schlimmsten konfrontiert – Gewaltvideos, Livestreams, echte Tötungen. Und das meist ohne jemanden, der ihnen hilft, das zu verarbeiten. Die Algorithmen spülen solche Sensationen gezielt nach oben, weil sie Reichweite bringen.

Sie sprechen in Ihren Vorträgen vom "Dauerfeuer der Abgründe". Was meinen Sie damit?

Qualitativ wie quantitativ hat sich die Lage verschärft. Seit etwa 2018, als TikTok richtig durchgestartet ist, hat sich der Umgang mit Inhalten massiv verändert. Heute geht es nicht mehr nur um Unterhaltung, sondern um ein unkontrolliertes Gemisch aus Spaß, Schock und Sensation, das sehr schnell nach oben gespült wird.

Was sehen Kinder dort konkret?

Gewalt, Tierquälerei, Folterszenen, sexualisierte Inhalte, Rassismus, radikale Propaganda oder gefährliche Challenges. Alles, was Aufmerksamkeit erzeugt, wird vom Algorithmus belohnt.

Leben Kinder also in einer anderen Welt als wir?

Absolut. Für sie ist das Digitale Lebensrealität. Freundschaften, Identität, Trends – alles passiert dort. Das Smartphone ist kein Spielzeug, sondern ein fester Teil ihres Alltags. Viele Erwachsene verstehen diese Kultur nicht und unterschätzen ihre Wirkung.

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Silke Müller (Archivbild). (Quelle: IMAGO/teutopress GmbH/imago)

Zur Person

Silke Müller, 1977 in Niedersachsen geboren, war 16 Jahre lang Schulleiterin der Waldschule Hatten im Landkreis Oldenburg, die unter ihrer Leitung als eine der ersten "Smart Schools" Deutschlands ausgezeichnet wurde. Die Pädagogin und Bestsellerautorin ("Wir verlieren unsere Kinder") wurde 2021 zur ersten Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen ernannt und gilt heute als eine der wichtigsten Stimmen für digitale Ethik und Kinderschutz im Netz.

Manche sagen, auch frühere Generationen hätten Schlimmes gesehen – in Filmen oder Nachrichten. Ist das heute wirklich anders?

Ja. Früher gab es Redaktionen, Regisseure, Altersfreigaben. Heute kann jeder anonym veröffentlichen, was er will. Diese Entgrenzung ist neu: Jeder kann Sender sein – und manipulieren.

Viele Eltern wissen gar nicht, was ihre Kinder online sehen. Ist das Unwissen oder Überforderung?

Beides – und oft Bequemlichkeit. Viele sagen: "Ich bin ja selbst bei Social Media." Aber das reicht nicht. Technische Schutzprogramme geben nur ein trügerisches Sicherheitsgefühl. Spätestens über Freunde oder Klassenchats sehen Kinder ohnehin alles. Wer dann meint: "Mein Kind macht das nicht", lädt Verantwortung beim Kind ab. Das ist eine Bankrotterklärung in der Erziehung.

Sie warnen davor, Kinderbilder zu posten. Ist das nicht übertrieben?

Nein. Diese Fotos landen in Datenbanken, bei Pädokriminellen oder werden per KI zu Missbrauchsmaterial verarbeitet. Eltern geben damit unbewusst die Privatsphäre ihrer Kinder preis. Zu glauben, "mein Kind wird schon keiner finden", ist naiv. Bilder verbreiten sich heute in Sekunden weltweit.

Hintergrund: Was Kinder im Netz erleben

Immer mehr Kinder verbringen große Teile ihres Alltags online. Laut der KIM-Studie 2024 des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest nutzt über die Hälfte der 6- bis 13-Jährigen, die Zugang zum Internet haben, dieses täglich. Fast jedes zweite Kind in dieser Altersgruppe besitzt bereits ein eigenes Smartphone, wie die Studie zeigt.
Nach Angaben der Initiative "klicksafe.de" sind Plattformen wie TikTok, Instagram oder YouTube längst fester Bestandteil des Kinderalltags – obwohl deren Nutzung laut AGB meist erst ab 13 Jahren erlaubt ist. Schon Grundschulkinder stoßen dort auf Inhalte, die für sie nicht geeignet sind: Gewaltvideos, Hassbotschaften oder sexualisierte Darstellungen.
Die Studienreihe EU Kids Online und Unicef-Berichte bestätigen diesen Trend: Kinder bewegen sich zunehmend in digitalen Räumen, die sie emotional überfordern. Fachleute warnen, dass Eltern und Schulen beim Schutz und bei der Begleitung kaum Schritt halten können.

Sie fordern ein Mindestalter für soziale Netzwerke, einen Social-Media-Führerschein und eine digitale Identität. Klingt vernünftig – aber auch nach Kontrolle.

Ich will keinen Überwachungsstaat, sondern Regeln. Auch in allen anderen Lebensbereichen gibt es Regeln oder Vorschriften, um Menschen Orientierung für ein friedvolles und gemeinschaftliches Zusammenleben zu geben. Ein Mindestalter wäre ein klares Signal – ähnlich wie beim Jugendschutz oder bei Altersfreigaben. Die genaue Zahl ist nicht entscheidend, sondern der Rahmen: Eltern brauchen Orientierung und Zeit, Kinder schrittweise an digitale Teilhabe heranzuführen. Das ist etwas anderes als flächendeckende Kontrolle.


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Wir müssen den Begriff Zensur neu denken – nicht als Einschränkung, sondern als Schutz.


Silke Müller


Und die digitale ID?

Anonymität ist eines der größten Probleme. Wer Hass oder Missbrauch verbreitet, kann sich dahinter verstecken. Eine überprüfte digitale Identität würde Täter identifizierbar machen – ohne Datenschutz aufzugeben.

Kinder nutzen heute schon Künstliche Intelligenz – auch als emotionale Stütze. Chance oder Gefahr?

Beides. Einsamkeit ist real – das zeigen Studien. Wenn Kinder einem Chatbot ihr Herz ausschütten, bekommen sie oft erstaunlich gute Antworten und fühlen sich gehört. Kurzfristig wirkt das wie Hilfe. Langfristig ändert es aber nichts: Es bleibt eine simulierte Beziehung. Kinder gewöhnen sich daran, mit programmierten Gefühlen zu sprechen – und echte Gespräche werden seltener. Das kann Einsamkeit sogar verstärken.

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Sie haben gesagt, wir bräuchten eine "digitale Ethik". Was meinen Sie damit konkret?

Keine neue wissenschaftliche Kommission, die ein Alter festlegt. Wir brauchen eine Taskforce, die laufend aufklärt – über Gefahren, Trends, Herausforderungen. Und ja, wir müssen den Begriff Zensur neu denken: zum Schutz anderer. Es braucht neue Richtlinien und Werte dafür, was im Netz in Ordnung ist. Das darf niemand allein entscheiden. Eine plural besetzte Expertengruppe – Pädagogik, Recht, Medien, gern auch mit Schülerinnen und Schülern – sollte einen Wertekonsens formulieren, aus dem klare Leitlinien entstehen.

Viele würden sagen: Zensur – das widerspricht doch der Meinungsfreiheit. Wie verhindern wir, dass Kinderschutz nicht zur Bevormundung wird?

Indem wir Zensur nicht als Einschränkung verstehen, sondern als ethische Verantwortung. Wir brauchen neue Werte dafür, was im Netz in Ordnung ist und was nicht. Niemand sollte das allein festlegen. Aber wir müssen wieder ernsthaft darüber reden, welche Inhalte wir als Gesellschaft verantworten können – und wo Schutz wichtiger ist als absolute Freiheit. Andere Länder zeigen ja, dass Regulierung grundsätzlich möglich ist. In China sind etwa bestimmte Netzwerke für Kinder auf 40 Minuten pro Tag begrenzt. Wenngleich es skurril ist, dass ausgerechnet das Mutterland von TikTok ein Beispiel sein kann. So weit will ich auch gar nicht gehen – aber gar nichts zu tun, ist auch keine Lösung.

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Sie haben 16 Jahre lang eine Schule geleitet und sind derzeit beurlaubt. Dort galt ein Smartphoneverbot. Was bewirkt das?

Wir sind eine sehr digitale Schule – mit Geräten, IT-Betreuung und klaren Regeln. Trotzdem bleiben Smartphones in den Pausen in der Tasche. Das verändert das Miteinander spürbar: Kinder reden, streiten, lachen wieder miteinander. Sie erleben Langeweile, treffen Entscheidungen, bewegen sich. Das ist Erholung vom Dauerstrom der Medien.

Viele sagen, Schulen hätten ganz andere Probleme – Lehrermangel, Überlastung. Ist digitaler Kinderschutz da nicht Luxus?

Im Gegenteil. Medienbildung muss Priorität haben. Lehrkräfte brauchen verpflichtende Fortbildungen zu Social Media, KI und digitaler Ethik. Eigentlich müsste es ab Klasse eins wöchentlich Unterricht dazu geben. Einen ganzen Unterrichtstag, nicht nur ein Fach. Denn wenn wir das nicht ernst nehmen, verlieren wir eine ganze Generation.

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Sind wir Erwachsene also längst Teil des Problems?

Ja. Wir konsumieren selbst ständig Krisen, Empörung, Katastrophen – und Kinder übernehmen das. Sie brauchen unsere Gelassenheit. Wir können sie nicht vor allem schützen, aber verlässliche Gesprächspartner sein.

Wie müsste ein digitales Morgen aussehen, das Kindern, Eltern und Lehrkräften guttut?

Es müsste wieder um Menschlichkeit gehen. Digitale Ethik bedeutet für mich, Menschlichkeit ins Netz zu übertragen: Respekt, Zuhören, Empathie. Wenn wir das schaffen, kann Technologie ein Werkzeug für Wissen, Kreativität und Begegnung werden – statt für Spaltung.

Frau Müller, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Silke Müller
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